Bildorganismen

Wurmbibliothek / Wurm Nr. 83 / Innere Welt Wurm / Wurm - Foto - Ich

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Installationsansichten / Zeichnungen und Objekte


Kunsthalle Göppingen, 2013


Das mehrjährige Projekt umfasst Zeichnungen und Objekte, die in variablen Installationen ausgestellt werden und in einem Leporello zusammengefasst sind.


Leporello, 29,5 x 14 cm, Länge 462 cm, 2013


Wurmbibliothek ist entstanden in der Auseinandersetzung mit einer gentechnischen Methode. Zu biologischen Würmern und ihrer wissenschaftlichen Darstellung in Form
von Genomen entwickelte ich Analogien mit klassischen künstlerischen Materialen wie Zeichnung, Fotografie und Farbe. Strukturelle Beobachtungen, subjektive Assoziationen und an die wissenschaftliche Methode angelehnte Verfahrensweisen wie systematisierte Produktion ergeben die Bildwelt meines Projektes. Es ist eine Untersuchung über die Haltung gegenüber einem Forschungsobjekt, über Möglichkeiten von rationaler Verwaltung und die Eigendynamik eines Erkenntnisprozesses.


Shedhalle Tübingen, 2013


Mit der künstlerischen Untersuchung gebe ich Zusammenhänge wieder aus einem Gespräch mit einer Biologin. Sie erzählte mir von einem Verfahren, mit dem bisher zufällige Ergebnisse systematisiert werden und so zum Aufbau der „Library of Worms“ beitragen, einer wissenschaftlichen Datenbank, über die Wurmpopulationen mit verschiedentlich verändertem Genom bezogen werden können. Mein Ziel war, in der Bildwelt eine parallele Struktur zu finden. Der folgende Satz ist zum Schluss in beiden Welten gültig: Die Mutantenpopulationen, die in der Datenbank verwaltet werden, sind Nachkommen/ Reproduktionen von Zufallsmutationen/Zufallstreffern. Über die noch unvollständige Datenbank werden die schon existierenden Mutationen verwaltet - eine existierende Mutation stellt ein bestimmtes Möglichkeitsspektrum für die Forscherin/Künstlerin dar, auf das sie über die Datenbank gezielt zugreifen kann.

Der Inhalt des Gesprächs mit der Biologin, formuliert in meinen Worten:

Man kennt verschiedene Methoden, um Fremd-DNA in ein Genom zu integrieren.
Sie sind unterschiedlich zuverlässig. Eine neueste Entwicklung ist das Verwenden
von mos1. Das ist eine tausendstellige DNA-Sequenz, mit deren Hilfe gezielte
Integrationen möglich sind.

Wie zuvor bombardiert man die Würmer mit Partikeln, die mit dieser Sequenz
benetzt sind - die Partikel reißen ein Loch in die DNA-Kette und in die entstandene
Lücke kann sich die neue Sequenz integrieren. Anschließend liest man das Genom
der präparierten Würmer aus, und notiert die Stelle der zufälligen Integration.

Diese Art Würmer vermehrt sich selbstbefruchtend, ohne Austausch von Erbgut,
so dass auch die Nachfahren der präparierten Würmer die mos1-Sequenz an der
jeweiligen Stelle im Genom tragen.

Das Besondere an mos1 ist, dass man diese Sequenz von einem Protein aufspüren
und heraustrennen lassen kann. Ein solches Protein kann außerdem ein anderes
DNA-Stück mit sich tragen, welches sich - grob gesagt - stattdessen in die Lücke
setzt. Weil man bei den präparierten Würmern weiß, wo mos1 sitzt, weiß man, wo
die DNA, die man dem Protein mitgibt, sich integrieren wird.

Die Stelle der Integration kann für ein Experiment wichtig sein, deshalb wird ein
Wurm mit einer gelungenen mos1-Integrationen gezielt vermehrt und die Population
konserviert. In der Wurmbibliothek sind alle diese neuen Wurmstämme erfasst, und
man kann sich bei Bedarf einige Exemplare bestellen...





Katalogtext zu "Wurmbibliothek" in der Ausstellung "Skulptur ist, wenn..." in der Kunsthalle Göppingen, 2013:

Pendants,...

An einem Punkt begegnen sich zwei Welten. Person A spricht mit Person B.
Person A erklärt einen Ausschnitt ihres alltäglichen Gedankenraums, ihrer wissenschaftlichen Arbeit, bis die fachfremde Person B sich diesen Ausschnitt vorstellen kann. Person B bin ich.

Ich stoße in der Welt von Person A auf den Begriff „Wurmbibliothek“. Ihre Arbeit befasst sich mit dem Wurm C.elegans, der in der Forschung als Modellorganismus verwendet wird. Über ein zufallabhängiges Bombardierungsverfahren werden diesen Würmern künstliche DNA-Sequenzen als Markierungen ins Genom eingefügt, die später aufgespürt, ausgeschnitten und ersetzt werden können. Die Klassifizierung dieser Treffer führt zu einer Datenbank, zur Bibliothek markierter Würmer.
Für die Klassifizierung wird das Genom ausgelesen und die Orte der Treffer benannt, entsprechend der Konvention, Orte im Genom zu beschreiben. Denn das Genom ist komplett entschlüsselt und auch andere Funktionsweisen dieses Organismus sind bekannt. So existiert in der wissenschaftlichen Vorstellung des Menschen ein gedanklich konstruiertes Pendant zu diesem Tier.
Mensch und Wurm stehen sich gegenüber. Indem der Mensch handelt, bombardiert oder schießt, überbrückt er diesen Abstand zum Gegenüber und konfrontiert die Existenz auf der anderen Seite mit seinen Gedanken. Sobald der Schuss losgelassen ist, verselbständigt er sich und kreiert eine neue Situation: Er ist dann Teil des Gegenübers, dessen, was der Mensch versuchen kann zu begreifen und von dem er dabei gedankliche Pendants schafft.

Etwas ähnliches ist geschehen, als ich „Wurm“ und „Mensch“ skizzierte. Ich wollte gedankliche Platzhalter schaffen für all das, was ich mit dem jeweiligen Begriff meinen könnte. Auf dem Papier sind dann aber auch über diese Platzhalterfunktion hinausgehende, eigenständige Ereignisse.

Die computergestützte Erfassung dieser Skizzen multipliziert sie ins Unendliche. Als Bilddatei ist ihre Erscheinung relativ, wenn auch immer Interpretation der selben unter bestimmten Parametern verwalteten Datenmasse.
Bei reduzierter Auflösung zum Beispiel erhalten diese Bilddateien eine Erscheinungsform, bei der sowohl die Gestalt der Skizzen immer noch gut erkennbar sind, als auch ihre Darstellungseinheiten - die Elemente, die ihre Berechnung und Reproduzierbarkeit ausmachen. Diese Version der Skizze ist ein möglicher Ableger der einzigartigen Ur-Skizze und für diese entscheide ich mich als neue Tatsache. Ich nenne sie „Idee Wurm".
Diese „Idee Wurm" ist in doppeltem Sinne die Idee einer Sache: Sie ist immer noch die Skizze, die als gedanklicher Platzhalter für alle Würmer steht, und dazu ist sie, aufgrund ihrer klaren Bildbausteine, der zeichnerische Konstruktionsplan des Wurms.

Weil der Aufbau von DNA ein gedankliches Modell ist, ist ein lineares Auslesen von Informationen der DNA und ein Bestimmen von Orten darin möglich. Aus dem selben Grund kann für den Konstruktionsplan „Idee Wurm" eine Lesart bestimmt werden, wie die Bausteine auf lineare Weise geordnet und benannt werden. In „Idee Wurm" können, weil sie gedanklicher Platzhalter für alle Würmer ist, Markierungen aus dem Bauplan einzelner Würmer zusammen eingetragen werden.


...Verlagerung auf abstrakte Werte

Die definierten Darstellungseinheiten liefern des weiteren eine Informationsebene, die ein neues Material darstellt. Jede Darstellungseinheit hat eine definierte Farbzusammensetzung und eine definierte Position. Für die Datenbank ist die Position die Eigenschaft, die das Kriterium für die Verwaltung des Wurmes bildet: Die Datenbank isoliert diese Eigenschaft. Die Information trennt sich vom Tier, das dessen Träger bleibt, und von seinem gedanklichen Pendant, in das es eingebettet bleibt, und wird zum eigenständigen Wert. Die Information wird zum Material.

Eine materialisierte Form von Information kann Farbe sein, wenn sie nach definierten Komponenten gemischt wird. So kann eine Aneinanderreihung von Farbwerten eine Auflistung von Information sein. Und diese Reihe kann, nachdem die Möglichkeit eine Form zu linearisieren gedacht worden ist, für jede Wurmform gelten.
Zunächst ist die Farbskala selbst ein neues und unabhängiges Universum mit einem eigenen Entstehungsprozess: auf einem langen schmalen Papierstreifen werden Farbtöne aneinandergereiht, bis dieser vollständig bemalt ist. Zu diesem Objekt gibt es ein gedankliches Pendant: ich habe die Mischungsverhältnisse der Grundfarben mitgeschrieben. Das heißt, das Objekt ist, innerhalb einer technisch bedingten Unschärfe, reproduzierbar.
Gleichzeitig lösen sich die Farbwerte durch ihre Benennbarkeit von dem Objekt.
Das theoretische Gerüst einer Farbe lässt sich als mathematischer Bruch reduzieren und führt zu der kleinsten Menge, die von dieser Farbe gemischt werden kann.
Die Anzahl der Farben, die mit dem Objekt entstanden sind, definiert nun auch für den Konstruktionsplan “Idee Wurm” eine neue Einteilung in Informationseinheiten. Die Wurmform wird danach in 130 Formeinheiten bzw. Informationswerte aufgelöst.
Die Werte der getroffenen Orte lassen sich entlang ihrer Formeln vervielfältigen und bilden eine vom Zufall des Bombardements bestimmte Bibliothek.

Während Person A sich im Bedarfsfall an die Verwaltung der wormbase (www.wormbase.org) wendet, um einen Wurmstamm zu bestellen auf dessen Markierung im Genom sie sich beziehen möchte, gibt es in der Welt von Person B Farben, die jeweils in Verbindung mit einem Wurmbildstamm zur Verfügung stehen.


(Rosa Rücker 2012)